Wer Frieden will, muss für den Krieg gerüstet sein

Wer Frieden will, muss für den Krieg gerüstet sein

Warum die Friedensbewegung sich irrt und dauerhafter Frieden dennoch möglich ist, jedoch unter einer Bedingung

Wer seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine Sätze sagt wie „Waffen schaffen keinen Frieden“ oder „Wir sollten keine Waffen liefern, sondern Frieden stiften“ oder „Wer Waffen liefert, will Krieg“ oder „Ohne Waffen kein Krieg“, der kann sich beim Anblick der Bilder aus dem Kriegsgebiet, die in Dauerschleife über alle Kanäle flimmern, nicht mehr als Friedensaktivist herausreden. Der Friedensaktivist, der von sich aus jede Gewalt ablehnt, sieht sich nun mit dem Paradox konfrontiert, dass man ihm vorwirft, den Terror der Angreifer zu unterstützen und dass ihm selbst, als friedliebender Mensch, nun Haß entgegenschlägt.
Wie konnte es dazu kommen?

Die Ethik der Friedenbewegung

Es reicht nicht, wenn man den Friedensaktivisten vorwirft, dass sie „gefühlskalt“ oder „realitätsfern“ sind. Warum ist es „realitätsfern“, wenn man als Pazifist auf einer Demo Schilder hochhält, auf denen steht: „Keine Waffen für die Ukraine“ oder „Frieden stiften, statt Krieg schüren …“ Nun, die kürzeste Erklärung wäre, dass Pazifisten seit Ende des Zweiten Weltkriegs in einer Friedensblase aufgewachsen sind, von der sie glauben, dass die Friedensbewegung selbst, der Garant oder zumindest ein wichtiger Pfeiler des Friedens ist. Sie haben sich sozusagen selbst eine moralische Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt, mit der sie alles verurteilen, was auch nur in die Nähe von Militär oder Gewalt kommt. Aufrüstung ist schlecht, Gewalt führt zu nichts, Waffen bedeuten Krieg. Dieses Mantra funktionierte so lange kriegerische Auseinandersetzungen weit weg waren und uns in Europa kaum etwas anging. Doch Putins Angriff auf die Ukraine brachte den Krieg und damit auch Bilder von Leichen in Straßen, alte Menschen, tote Radfahrer, gefesselte Männer mit zerschossenen Schläfen, Massengräber, brennende Autowracks mit den verkohlten Überresten von Menschen, die noch im Dezember ihre Balkone mit Weihnachtsbeleuchtung schmückten und ihren Sommerurlaub planten. Heute erinnert nichts mehr an diese Normalität. Ein Land ist zerstört und das vor unserer Haustüre. Die Tatsache, dass dies vor unserer Haustüre geschieht, gibt den Kritikern der Friedensaktivisten nicht automatisch recht, doch wenn die Einschläge der Bomben und Raketen auch in unseren Städten, jenseits der ukrainischen Grenzen, in Warschau, Budapest oder Berlin möglich sind, wird der Irrtum der Friedensaktivisten offensichtlicher.

Die Bedingung der Möglichkeit von Frieden

Der Irrtum der Friedensbewegung liegt nicht darin, dass sie für Frieden demonstrieren und auch nicht, dass ihnen das Leid der Menschen in den zerbombten Städten egal sei. Sie irren, weil sie sich nicht über die Bedingungen der Möglichkeit von Frieden im klaren sind.
Friedensaktivisten gehen davon aus, dass der Verzicht Waffen zu besitzen, also das eigene Abschreckungspotential auf Null zu reduzieren, die Bedingung von Frieden sei. Wer keine Waffen liefert und auch selbst keine besitzt, kommt einer friedlichen Lösung eines Konflikts näher, als derjenige, der sich Waffen beschafft und auch damit droht, sie einzusetzen, wenn man ihn angreift. Dem Pazifisten kann man ein Menschenbild unterstellen, das davon ausgeht, dass der Mensch grundsätzlich friedlich ist. Es sind äußere Umstände, die ihn zur Gewalt zwingen. Doch die Geschichte ist kein Beispiel friedfertigen Zusammenlebens, sondern eher die Abfolge von kriegerischen Auseinandersetzungen. Natürlich kann man sich einen Naturzustand ausdenken, noch bevor es Gesellschaften gab, in denen die Menschen konfliktfrei gelebt haben, aber solch eine Vorstellung ist nur eine Fiktion, ein Wunschtraum, dem die Geschichte der Menschheit entgegenläuft. Krieg, Gewalt und Konflikte gehören zur DNA des Menschen. Vielleicht wird es eines Tages eine Gesellschaft geben, die keine Waffen besitzt und völlig gewalt- und konfliktfrei existiert. Solange es jedoch andere Gesellschaften gibt, die kriegerisch organisiert sind, das heißt, deren Vernichtungspotential Teil der Staatsdoktrin ist, solange kann es auch keine friedlichen Gesellschaften geben, die auf jegliches Vernichtungspotential verzichten. Der Grund dafür ist zwar nicht logisch zwingend, aber empirisch feststellbar. Als der amerikanische Kontinent kolonisiert wurde, traf eine kriegstechnisch weiter entwickelte Kultur auf die technisch einfachere Kultur der Ureinwohner. Natürlich hätten die Ankommenden die Ansprüche der Ureinwohner anerkennen können, sie hätten weder ihr Land rauben noch ihre Stämme auslöschen müssen, doch allein die Gewissheit, dass sie das neue Land besetzen und die dortigen Einwohner vertreiben konnten, ließen sie auch zur Tat schreiten. In der Geschichte ist kein Fall bekannt, in dem ein wehrloses Volk, das darauf verzichtet, sich mit Waffengewalt zu verteidigen, bis in die Gegenwart überlebte. Wer sich nicht gegen Angreifer verteidigen konnte, wer selbst nicht über genügend Abschreckung, das heißt, über das Potential verfügte, andere zu vernichten, verschwand von der Bildfläche.

Worte gegen Kugeln

Wenn Friedensaktivisten Waffenlieferungen und die eigene Aufrüstung ablehnen, selbst wenn der Nachbarstaat militärisch stark aufrüstet, setzen sie stillschweigend voraus, dass der militärisch überlegene Staat niemals den Schritt macht, um das wehrlose Land einfach einzunehmen. Pazifisten setzen auf eine ungleiche Konfrontation: Worte gegen Kugeln, Argumente gegen Raketen. Auch wenn die Absichten der Pazifisten philosophisch mehr Sinn ergeben, weil sie kriegerische Auseinandersetzungen für überholt halten und Kriege den Fortschritt der Menschheit, hin zu einer geistigen und technischen Weiterentwicklung, eher hemmen, riskieren sie, von der Erde völlig getilgt zu werden. Es mag sein, dass „Waffen keinen Frieden bringen“, doch sie machen den Krieg, d. h. die bewaffnete Auseinandersetzung, die ein Kampf auf Leben und Tod ist, für den Angreifer kostspieliger.

Sich mit Waffen auszustatten, seine eigenes „Vernichtungspotential“ aufzubauen, verhindert vielleicht nicht jeden Krieg, sie macht ihn aber in den Augen eines Angreifers kostspieliger bis hin zu der strategischen Erkenntnis, dass der Angreifer durch den Krieg so geschwächt oder gar ausgelöscht wird. Das Wissen, dass man einen Angriff nicht überlebt, führt zu einer Situation, in der die Kräfte zweier verfeindeter Kontrahenten, gleich groß sind. Ein Krieg könnte von keiner Seite gewonnen werden. Dies ist der Zeitpunkt für Gespräche. Erst wenn Krieg unrentabel wird, öffnet sich das Fenster für Verhandlungen und Argumente. Denn warum sollte man mit jemandem ernsthaft verhandeln, wenn man ihn zu etwas zwingen kann? Wozu reden, wenn man ihn von seinem Land vertreiben oder töten kann?

Das strategische Ungleichgewicht

Stehen die beiden Parteien sich in einem technischen Ungleichgewicht gegenüber, ist die Wahrscheinlichkeit einer kriegerischen Handlung höher. Es gibt keinen Grund, warum der Stärkere – wenn es sonst keine strategischen Gründe wie z. B. wirtschaftliche Beziehungen gibt – sich das schwächere Land nicht einverleibt.
Anders ausgedrückt: wer über ein höheres Vernichtungspotential verfügt, wird dann zum Mittel des Krieges greifen, wenn dieser ökonomisch kalkulierbar ist. Am Ende verlieren die Schwächeren ihr Land oder werden gleich mit ausgelöscht.

Hätte man z. B. den Landraub und teilweise die Auslöschung der Ureinwohner Amerikas verhindern können?

Stellen wir uns vor, dass ein technisch hoch gerüsteter Staat die Ureinwohner mit Waffen versorgt und sie strategisch unterstützt hätte. Was wäre geschehen, wenn die ersten Siedler von einer wehrhaften Armee zurückgedrängt worden wären? Drei Szenarien sind denkbar. Das erste Szenario: die Siedler ziehen sich zurück und verschwinden. Das zweite: sie versuchen das neue Land zu erobern, in dem sie sich auf einen bewaffneten Konflikt einlassen. Und das letzte Szenario: Verhandlungen. Die Siedler erkennen, dass ein bewaffneter Konflikt zu kostspielig und zu gefährlich ist. Dies ist der Zeitpunkt für Gespräche, Handelsabkommen und Sicherheitsgarantien.
Der Ursprung dieser Verhandlungen ist aber nicht die Friedfertigkeit der Siedler, die als Invasoren in das Land kamen, sondern einzig der Widerstand, der ihnen entgegengesetzt wird. Denn es gibt keinen Grund, warum man Verhandlungen führen sollte, wenn man sein Ziel auch ohne erreicht.

Philosophen denken nicht strategisch

Philosophen könnten gegen ein solch rein strategisches Denken Einwände haben und anführen, dass sich Gesellschaften, auch wenn sie ein höheres militärisches Vernichtungspotential haben, sich auf einen moralischen Codex berufen, der es ihnen verbietet, einfach in andere Länder einzufallen und sich zu nehmen, was ihnen gefällt. Abgesehen davon, spricht die Geschichte gegen eine solche Annahme. Gesellschaftliche Verhaltensregeln, Ethik und philosophische Leitsätze, haben noch kein Imperium daran gehindert, andere Länder zu überfallen und zu plündern. Daniel Damler beschreibt unter anderem in seinem Buch „Wildes Recht. Zur Pathogenese des Effektivitätsprinzips in der neuzeitlichen Eigentumslehre“ wie die kirchliche Morallehre so angepasst wurde, dass die Unterwerfung südamerikanischer Völker den ethischen Narrativen der Invasoren nicht widersprach.
Es ist gut, wenn man sich auf das Wort eines Menschen verlassen kann, es ist aber besser, wenn man auch die Mittel hat, um ihn daran zu erinnern, wenn er es bricht.

Bedrohliches Ungleichgewicht

Durch die Forderung der Friedensaktivisten keine Waffen zu liefern – auch wenn es zur eigenen Sicherheit des Landes beitragen würde und überdies selbst auf eine eigene Armee und abschreckende Waffen zu verzichten – entsteht ein taktisches Ungleichgewicht, sobald ein anderes Land in sein Vernichtungspotential investiert. Auch wenn dieses Land noch keine Absichten hegt, in andere Länder einzufallen, stellt allein die Ungleichheit zwischen den Vernichtungspotentialen eine Bedrohung dar. Denn Ziele für einen Krieg finden sich immer. Territoriale Streitigkeiten, Streit um Ressourcen, religiöse Ansichten etc.

Die Gefahr eines Krieges bemisst sich am strategischen Ungleichgewicht. Je größer dieses Ungleichgewicht der Vernichtungspotentiale ausfällt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der militärisch Überlegene den Friedfertigen, der weitestgehend auf seine Verteidigung verzichtet, angreift und ihn entweder aus seinem Land vertreibt oder ihn physisch zerstört.
Ohne einen starken Bündnispartner, der im Falle eines Angriffs wie ein „großer Bruder“ eingreift, ist das Land technisch gesehen, einfach nur wehrlos. Es hat sich durch seine einseitige Demilitarisierung selbst zum Opfer stilisiert.

Treibt man das strategische Ungleichgewicht auf die Spitze, dann kann man sogar sagen, dass derjenige, der einseitig auf Abrüstung setzt, also sein eigenes Vernichtungspotential reduziert, die Wahrscheinlichkeit eines Krieges erhöht, obwohl er sich selbst als neutral bezeichnet.

Frieden durch Abschreckung

Frieden ist danach kein Zustand, der einfach aus der Abwesenheit von Krieg besteht, sondern ist die Konsequenz aus einem Gleichgewicht gegenseitiger Abschreckung. Erst wenn eine kriegerische Auseinandersetzung zu risikoreich und zu kostspielig wird, verringert sich auch deren Wahrscheinlichkeit. Ganz auszuschließen sind kriegerische Auseinandersetzungen nicht.
Größere Kriege sind selten das Resultat von unüberlegten politischen Handlungen, sondern sind von langer Hand geplant, mit einer klaren Zielsetzung. Ob der Angreifer diese Ziele schließlich erreicht, ist eine andere Sache. Das Risiko für den Angreifer sich zu verrechnen ist umso geringer, je weniger Vernichtungspotential sein Gegner hat. Je weniger Widerstand dieser zeigt, desto weniger Kräfte muss der Angreifer aufwenden, um ihn zu erobern oder zu vernichten.

Haben die Friedensaktivisten unrecht?

Sie unterliegen einem Irrtum, wenn sie glauben, dass der einseitige Verzicht auf Vernichtungspotential, d. h. auf eine funktionsfähige Armee, sie aus kriegerischen Auseinandersetzungen heraushält. Richtig ist, dass sie nicht mehr als Aggressor in die Geschichte eingehen, aber dafür als unterworfenes oder vernichtetes Volk. Der Irrtum ihrer Forderungen liegt in ihrer Einseitigkeit. Die Wahrscheinlichkeit kriegerischer Auseinandersetzungen erhöht sich durch das strategische Ungleichgewicht, das entsteht, wenn ein Land ein höheres Vernichtungspotential hat als ein anderes. Wer also auf militärische Aufrüstung und teures Militär verzichten will, muss sich für ein weltweites Abrüsten einsetzen. Wenn sich die Länder gegenseitig verpflichten, auf Aufrüstung, d. h. auf Vernichtungspotential zu verzichten und dies mit gegenseitigen Kontrollen zu überwachen, ist eine Entspannung möglich. Pazifismus kann daher nur eine globale Bewegung sein. Wenn ein Land allein in seinen Abrüstungsbestrebungen voran geht, ohne dass ein starker Bündnispartner an seiner Seite steht, entsteht wieder ein strategisches Ungleichgewicht und die Wahrscheinlichkeit eines Krieges steigt.

Das Paradox der Aufrüstung

Militär ist teuer. Ein Land mit hohem Vernichtungspotential gibt einen Großteil seines Staatsbudgets dafür aus, andere Länder davon abzuhalten, es anzugreifen bzw. seine Interessen in der Weltordnung, wenn nötig auch mit Gewalt, durchzusetzen. Eine Erkenntnis, die zu dem Paradox führt, dass Länder, die über ein hohes Vernichtungspotential verfügen, weiter in Rüstung investieren, bis zu dem Zeitpunkt, an dem alle Länder feststellen, dass ein strategisches Gleichgewicht auch auf einem niedrigeren Niveau erreicht werden kann. Wenn also der Anteil der Rüstung am Staatsbudget in jedem Land unverhältnismäßig hoch ist, dann ist der Moment für Abrüstungsverhandlungen erreicht.

Eine Welt ohne Militär?

Ist zumindest theoretisch möglich. Wahrscheinlich am Ende eines längeren sukzessiven Abrüstungsprozesses, bei dem das Vernichtungspotential eines jeden Landes, herabgesetzt wurde. Darüber hinaus hat dann auch die Waffenindustrie ebenfalls ihr Geschäftsmodell an die neue Situation angepasst. In einer Welt, in der es immer weniger Konflikte gibt und militärische Auseinandersetzungen nur noch der Vergangenheit angehören, läßt sich kein Geld mehr mit Waffen verdienen. Doch diese Vision einer Welt in Frieden sind Klänge einer noch nicht geschriebenen Zukunftsmusik. Der Weg dahin ist lang, nur irgendeiner muss ihn beginnen und dies könnte der Anfang einer neuen, globalen Friedensbewegung sein.