Ich bin ja eher der Meinung, dass Autoren, aber eigentlich Künstler ganz allgemein, sich auf ihr Werk konzentrieren und ihre persönlichen Belange allein dem Tagebuch anvertrauen sollten, das sie dann in einer verstaubten Schublade verschwinden lassen. Was nicht in den Schaffensprozess fließt, braucht nicht für jeden zugänglich gemacht werden. Wen interessiert, ob ich mir beim Treppensteigen die Hüfte schmerzt oder das Sprunggelenk zwickt? Mich wundern Leute, die mit ihrer Handykamera jeden Moment ihres Krankenhaus-Aufenthaltes fotografieren, kommentieren und dann in den Social-Media veröffentlichen. Warum habe ich mich entschlossen, über meine anstehende Hüft-Operation zu schreiben? Ich denke, es gibt andere Menschen, die vor derselben Entscheidung stehen und sich fragen, ob sie den Schritt zu einer Voll-Hüft-Prothese wagen oder lieber noch warten. Der Punkt, an dem ich mir sagte, jetzt mache ich einen Termin mit einem Chirurgen aus und höre mir seine Meinung an und hoffe insgeheim, dass es noch einen anderen Weg gibt, liegt ungefähr ein halbes Jahr zurück. Wer mich am Ende zur Entscheidung verholfen hat, war niemand anderes als Schmerzen.
Die Probleme begannen schrittweise. Erst merkte ich bei meinem BJJ (Brasilian-Jiu-Jitsu)-Training, dass ich bei einigen Positionen und Bewegungen plötzlich stechende Schmerzen hatte. Diese verzogen sich aber wieder. Dann merkte ich, dass bei längeren Lauf-Strecken meine rechte Hüfte irgendwie nicht rund lief und nach zwei Monaten intensivierten sich die Schmerzen derart, dass ich auf’s Laufen verzichten musste. Blieb mir das Schwimmen. Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, nach vier oder fünf Stunden Arbeit am Schreibtisch, schwimmen zu gehen. Das Meer ist nicht weit und im Winter entdeckte ich für mich das Kaltwasserschwimmen. Es ist etwas gewöhnungsbedürftig bei 6 bis 7 Grad nur in Badehose durch das Wasser zu pflügen, doch man lernt mit der Kälte umzugehen. Ziel war es, jeden Tag ungefähr einen Kilometer zu schwimmen, was einer Zeit im Wasser von 15 bis zwanzig Minuten entspricht. Bei starker Strömung oder stürmischem Wetter, verkürzte sich die Distanz über Grund. Über das Kaltwasserschwimmen könnte ich sicherlich noch mehr erzählen, doch im Augenblick will ich nur die schmerzlindernde Wirkung auf meine Hüftarthrose oder Coxarthrose erwähnen. Klar, wer schwimmt, der ist größtenteils schwerelos. Sobald ich schwimme, sind die Schmerzen verflogen. Die menschliche Anatomie ist leider so beschaffen, dass die Schmerzen aus dem zerfrästen Hüftgelenk nicht nur in der Hüfte spürbar sind, sondern ins Knie und in den Rücken abstrahlen. Man hat also den Eindruck, dass nicht nur die Hüfte knirscht, sondern die ganze betroffene Körperhälfte. Dazu kommt noch, dass ich mir einen wackeligen Schongang angewöhnt habe, was daran liegt, dass das rechte Bein um 1,5 cm kürzer geworden ist. Da nun das linke Bein, einseitig belastet wird, treten hier plötzlich Probleme auf. Eine Sehnenentzündung am Knöchel, was dazu führt, dass auch das linke Fussgelenk schmerzt.
Vor sechs Monaten sprach ich mit meiner Hausärztin über mein Hüftproblem. Sie empfahl mir zunächst mit Homöopathie die Arthrose soweit einzudämmen, dass ich zumindest schmerzfrei bin. Dazu kam noch eine ganz spezielle Hüftgymnastik, die ich täglich zehn Minuten machen sollte. Nach zwei Monaten, in denen ich getrocknete Brennnessel gegessen habe, pflanzliches Kollagen und andere Tropfen, war ich wieder bei meiner Hausärztin. Es folgte eine Röntgenaufnahme der Hüfte. Die Bilder sahen nicht gut aus. Wo sich früher ein dunkler Gelenkspalt befinden sollte, war nur noch ein kantiger Knochen übrig. Der dämpfende Knorpel fehlte völlig. Nach weiteren zwei Monaten dann das Gespräch mit einem Chirurgen. Die Befund war klar. Ohne Operation würde ich bald überhaupt nicht mehr laufen können. Ich wäre Mitte Fünfzig nicht mehr fähig, im Garten zu arbeiten, den Rasen zu mähen, auf eine Leiter zu steigen, an den Strand zu laufen, Fischen zu gehen oder zu surfen.
Der erste Chirurg, mit dem ich sprach, erklärte mir, dass ich mit einer Hüftprothese nur noch wenig machen könne. Ein bisschen Gartenarbeit und auch hier sollten die Gießkannen nicht mehr voll gefüllt sein. Ich schrieb also Leute an, die ungefähr in meinem Alter waren und nach einer Hüft-OP immer noch Windsurfen waren und BJJ trainierten. Ich bekam tatsächlich einige Antworten und sie berichteten mir, dass sie nach knapp einem Jahr wieder voll einsatzfähig waren. Allerdings mit Einschränkungen. Sie verzichteten auf „hartes Sparing“ und auf „Sprünge“ beim Windsurfen. Damit konnte ich leben. Tauchen und Speerfischen waren ebenfalls Tätigkeiten, die mit einer Hüftprothese möglich waren. Das war zumindest die Meinung von Leuten, die eine solche Operation schon hinter sich hatten.
Ein Bekannter, der als Physiotherapeut arbeitet, empfahl mir eine Privatklinik. Sie war zwar nicht in der Nähe, doch sie operieren dort nach einer mini-invasiven Methode. Bei der herkömmlichen Methode werden Muskeln durchtrennt und die Zeit der Rekonvaleszenz ist wesentlich länger. Bei der neuen Methode werden die Muskeln nicht mehr durchtrennt, sondern beiseite geschoben. Der Knochen wird abgesägt und die Prothese in den Oberschenkelknochen geklopft. Der Chirurg der Privatklinik bestätigte mir, dass dies eine recht mechanische Angelegenheit sei. Die Details dieser Angelegenheit könne er mir gerne in einem Video zeigen. Vielleicht nach der Operation, wenn mir nach ein bisschen Horror-Show zumute ist, aber nicht jetzt.
Die Zeit bis zur Operation zieht sich hin und ich bin erstaunt, wie schnell die Hüftarthrose inzwischen voranschreitet. Vor einigen Wochen konnte ich noch eine halbe Stunde stehen oder laufen, doch das Intervall der Schmerzen schließt sich. Jetzt muss ich mich schon nach zehn Minuten hinsetzen.
Es scheint mir immer noch wie ein futuristischer Traum, dass ich mir ein Stück Metall einsetzen lasse, ein künstliches Ding, um das Muskeln, Sehnen und Nerven sind. Die Knochen und Muskeln gehören zu mir. Es ist mein Körper, doch gehört die Prothese auch zu meinem Körper? Mir fällt das Paradox des Schiff des Theseus ein. Wenn man jede Planke eines Schiffes austauscht, ist es dann immer noch dasselbe Schiff? Was würde passieren, wenn ich jeden Knochen durch eine Prothese austauschen würde, wäre ich dann immer noch dieselbe Person? Und wenn es nicht nur die Knochen sind, sondern jeder Muskel, jede einzelne Zelle ausgetauscht würde, wäre ich dann immer noch derjenige, der diese Zeilen schreibt?
Die Prothese ist etwas, was nicht aus mir gewachsen ist. Es ist ein fremdes Stück, das ein anderer gefertigt hat. Es erfüllt vielleicht den Zweck meines alten Hüftgelenks, aber es ist nicht mein Hüftgelenk, sondern es tut nur so, als wäre es Teil meines Körpers. An seiner Andersheit wird sich nichts ändern, auch wenn ich nichts davon spüre. Das nehme ich jedenfalls an. Ich glaube nicht, dass der eigene Körper nur eine austauschbare mechanische Maschine ist. Er ist kompliziert, aber inzwischen schon in Teilen ersetzbar. In einiger Zeit wird es vielleicht möglich sein, jedes Körperteil und jedes Organ zu ersetzen. Vielleicht könnte auch das Gehirn optimiert werden. Und ist das Ich, das sich Gedanken über seine Integrität macht, wenn nach und nach Teile seiner physischen Existenz ausgetauscht werden, noch immer dasselbe?
Noch zwei Wochen bis zur Operation.